Einleitung:
Die Frage, welchen Blick Aristoteles in der Nikomachischen Ethik auf das Gesetz hat, wird in der Literatur kaum thematisiert. Dies liegt vielleicht daran, dass Aristoteles über das Gesetz nicht komprimiert an einer Stelle in der Nikomachischen Ethik schreibt; vielmehr finden sich einzelne Aussagen über die Gesetze an verschiedenen Stellen über das Gesamtwerk verteilt. –
Der folgende Aufsatz möchte im Wesentlichen drei Fragen beantworten: Was steht in den Gesetzen geschrieben? Worin liegen die Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Gesetz und Ethik? Und: Inwiefern hängen Gesetz und Ethik voneinander ab?
Wenn hierbei von „Ethik“ die Rede ist, dann ist dabei immer die aristotelische Ethik, d. h. eine Ethik der Mitte, gemeint (siehe dazu meinen Aufsatz über die „Tugend bei Aristoteles“).
Ich wünsche dem Leser eine hoffentlich verständliche und interessante Lektüre!
Felix H.
Hauptteil:
Im Folgenden sollen die drei in der Einleitung genannten Fragen einzeln erörtert werden.
Inhalt und Gegenstand der Gesetze
Zunächst soll auf die Frage eingegangen werden, welche Inhalte die Gesetze haben. Nach Aristoteles geben Gesetze vor, „was man tun und was man unterlassen soll“ (I 1). Derjenige, der sich (besonders) tugendhaft verhalte, werde durch das Gesetz geehrt (vgl. III 7 und III 11). So werde derjenige geehrt, der besondere Gefahren auf sich nehme (vgl. III 11). Aristoteles denkt in diesem Kontext vielleicht an den Mut von Soldaten im Krieg (vgl. III 12). Umgekehrt verhänge das Gesetz Strafen (vgl. III 7; III 11 und X 10). Das Gesetz bestrafe „Übeltäter“ (III 7); wer eine Straftat in Trunkenheit begangen habe, verdiene aufgrund der freiwillig herbeigeführten Trunkenheit eine zusätzliche Strafe (vgl. III 7).
Gegenstand der Gesetze ist auch die Erziehung des Menschen (vgl. V 5 und X 10). In diesem Zusammenhang scheinen die Gesetze, die „Beschäftigungen“ (X 10) vorzugeben, die zu tun erlaubt sind. Ein anderer Gegenstand der Gesetze scheint der Krieg zu sein. Denn das Gesetz gebe z. B. vor, wie hoch das „Lösegeld für einen Kriegsgefangenen“ (V 10) sein solle. Schließlich regele das Gesetz auch die Opferrituale, und bestimme, „dass man eine Ziege und nicht zwei Schafe opfern soll“ (V 10).
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von Gesetz und Ethik
Im Folgenden soll es um die Frage gehen, inwiefern Gesetz und Ethik ähnlich bzw. unähnlich sind. Insgesamt scheint es eine große Ähnlichkeit von Gesetz und Ethik zu geben. Denn der gute Politiker wolle „die Bürger gut und gehorsam gegen die Gesetze machen“ (I 13). Auch sei der gerechte Bürger derjenige, der die Gesetze beachte (vgl. V 2 und V 3). Schließlich sei der Mensch, der mutig, mäßig und sanftmütig, d. h. im aristotelischen Sinn tugendhaft sei, derjenige, der sich so verhalte, wie die Gesetze es vorschreiben würden. Denn der Soldat solle mutig sein und seinen Posten nicht verlassen, der Mäßige begehe nicht Ehebruch und der Sanftmütige beleidige und schlage andere nicht (vgl. V 3). Sodann befehle das Gesetz die Tugenden und verbiete die Laster (vgl. V 3 und V 5).
Außerdem scheinen sich Gesetz und Ethik auch darin ähnlich zu sein, dass sie beide vor der Aufgabe stehen, das gewollt Gemachte und das ungewollt Getane voneinander abzugrenzen. So müsse der Gesetzgeber das Gewollte und das Ungewollte gegeneinander abgrenzen, „was die Festsetzung von Ehrungen und Strafen“ (III 1) angehe.
Trotz dieser Ähnlichkeiten scheint es zwischen Gesetz und Ethik auch Unterschiede zu geben. Denn die Ethik scheint umfassender als das Gesetz zu sein, d. h. die Ethik scheint auch solche Dinge zu regeln, für die das Gesetz keine Regelung vorsieht. Z. B. verböten die Gesetzgeber „einige Arten von Beleidigung“ (IV14); das Spotten sei aber durch den Gesetzgeber erlaubt (vgl. ebd.). Der „kultivierte und vornehme Mensch“ (ebd.) aber werde „sich gewissermaßen selbst Gesetz“ (ebd.) sein – und nicht spotten. Die Tugendethik scheint also gewisse Dinge zu verbieten, die das Gesetz nicht verbietet.
Die Ethik scheint auch deshalb umfassender als das Gesetz zu sein, da das Gesetz „allgemein“ (V 14) formuliert sei. Aufgrund der Allgemeinheit der Formulierung könne ein Fall „verfehlt“ (ebd.) werden. Der billig eingestellte Mensch korrigiere nun das Gesetz, indem er dazu neige, „nicht im schlechten Sinn zu genau am Recht“ (ebd.) zu kleben. Der billig eingestellte Mensch neige stattdessen dazu, „weniger zu beanspruchen, obwohl er das Gesetz auf seiner Seite hat“ (ebd.).
Abhängigkeiten zwischen Gesetz und Ethik
Die Frage, welche Abhängigkeiten zwischen Gesetz und Ethik bestehen, soll als letzte Frage in diesem Aufsatz beantwortet werden. Aristoteles setzt das Gesetz (mindestens) dreimal in Bezug zur Klugheit. In Buch VI, Kapitel 8 schreibt Aristoteles, dass das Gesetzgebungswissen „die leitende Form“ der „mit dem Staat befassten Klugheit“ sei, und ebenfalls in Buch VI, Kapitel 8 sagt er, dass die Gesetzgebung eine andere Art von Klugheit sei. In Buch X, Kapitel 10 charakterisiert Aristoteles das Gesetz als „eine Rede […], die aus einer bestimmten Klugheit und Vernunft hervorgeht.“ Es scheint also, dass das Gesetz eines klugen Gesetzgebers bedarf. Die Klugheit ist nach Aristoteles aber eine Verstandestugend, oder anders formuliert eine dianoetische Tugend, des Menschen. Die Klugheit entstehe durch Belehrung (vgl. II 1).
Es scheint aber das Gesetz nicht nur von der Tugend abhängig zu sein, sondern auch die Tugend vom Gesetz abzuhängen. Denn die Gesetzesvorschriften, die die Erziehung regeln würden, brächten „diese ganze Gutheit des Charakters“ (V 5) hervor. Ähnlich schreibt Aristoteles in Buch X, Kapitel 10, dass eine richtige Anleitung zur Tugend zu bekommen „schwer“ sei, „wenn man nicht unter entsprechenden Gesetzen aufwächst. Denn mäßig und beherrscht zu leben ist für die meisten Menschen nicht angenehm, insbesondere dann nicht, wenn sie jung sind.“ (X 10)
Aber nicht nur in der Erziehung des Kindes spiele das Gesetz eine wichtige Rolle, um das Kind an die tugendhaften Verhaltensweisen zu gewöhnen, sondern das Gesetz sei in vielen Fällen auch im Erwachsenenalter zentral. Denn es brauche auch deshalb der Gesetze, da „die meisten Menschen […] eher dem Zwang als Worten und eher Strafen als dem Werthaften“ (X 10) gehorchen würden.
Schluss:
Zum Schluss sollen die drei Fragen aus der Einleitung noch einmal kurz beantwortet werden. Inhalt der Gesetze sei es, zu sagen, was man tun und was man unterlassen solle. Der Gesetzesbrecher werde bestraft, der Tugendhafte durch die Gesetze geehrt.
Die Gesetze scheinen der Ethik des Aristoteles zu ähneln. Denn das Gesetz ordne einen mittleren Habitus an (genauso wie die Tugendethik des Aristoteles dies tut). So gebiete das Gesetz, mutig als Soldat zu sein sowie mäßig nach taktiler Lust zu streben und sanftmütig zu zürnen. Die Ethik des Aristoteles scheint aber umfassender als das Gesetz zu sein. Denn das Gesetz erlaube auch solche Dinge, die man aus ethischer Sicht nicht tun solle. Außerdem müsse die Tugend das Gesetz zuweilen korrigieren, da das Gesetz aufgrund seine allgemeinen Formulierung fehlgehen könne.
Was die Abhängigkeiten von Gesetz und Ethik betrifft: Das Gesetz bedürfe eines klugen Gesetzgebers. Umgekehrt bedürfe auch die Ethik einer Erziehung, die von Gesetzen geregelt werde. Außerdem würden viele Erwachsene bloß den Strafen durch die Gesetze gehorchen.
Felix H.
Literatur:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek 52015.