Tugend bei Aristoteles

Einleitung:
Die Frage danach, was Tugend ist und wie sie entsteht, ist die zentrale Frage in der Nikomachischen Ethik. Neben diesen beiden Fragen kreist die Nikomachische Ethik wesentlich aber auch um die Frage, was die Tugend leistet. Oder anders gesprochen: Die Nikomachische Ethik sagt uns auch, warum wir tugendhaft handeln sollen…

Ich wünsche dem Leser eine hoffentlich verständliche und interessante Lektüre!

Felix H.

Hauptteil:
Aristoteles unterscheidet zwischen Tugenden des Charakters und Tugenden des Denkens. Wenn ein Mensch als besonders mutig oder als besonders freigebig oder als besonders sanftmütig bezeichnet werde, dann würden der Mut bzw. die Freigebigkeit bzw. der Sanftmut den Charakter eines Menschen charakterisieren (vgl. I 13); es handele sich also bei Mut, Freigebigkeit und Sanftmut um Tugenden des Charakters. Anders verhalte es sich, wenn ein Mensch weise genannt werde. Die Weisheit kennzeichne nicht den Charakter eines Menschen, sondern sein Denken. Bei der Weisheit handele es sich also um eine Tugend des Denkens (vgl. ebd.).
(Die Klugheit gelte auch als eine Tugend des Denkens (vgl. ebd.). Sie sei allerdings eng mit der Tugend des Charakters verknüpft. Mehr dazu im weiteren Verlauf des Artikels.)

Der charakterlich Tugendhafte weise immer einen mittleren Habitus auf. Oder mit anderen Worten gesprochen: der Tugendhafte treffe immer die Mitte und vermeide das Extrem (vgl. II 5 und II 6). Aristoteles zählt in der Nikomachischen Ethik insgesamt 10 Felder auf, auf denen der charakterlich Tugendhafte die Mitte realisiert:

Feld:_____________________________ zu viel:_________ Mitte:_______________ zu wenig:

Umgang mit Gefahren__________ Tollkühnheit___ Mut_________________ Feigheit
taktile Lust______________________ Unmäßigkeit___ Mäßigkeit__________ Stumpfsinn
Geld (im kleineren Umfang)____ Verschwendung Freigebigkeit_______ Knauserigkeit
Geld (größeres Vermögen)______ Protzerei______ Großzügigkeit______ Kleinlichkeit
(große) Ehre_____________________ Eitelkeit_______ Stolz________________ Kleinmütigkeit
(kleine) Ehrungen_______________ Ehrgeiz________ Mitte ohne Namen_ Ehrgeizlosigkeit
Zorn_____________________________ Zornmütigkeit Sanftmut____________ Zornlosigkeit
sozialer Umgang________________ Schmeichelei_ Freundschaftlichkeit Widerwärtigkeit
Wahrheit über sich selbst_______ Angeberei____ Wahrhaftigkeit______ geheuchelte Bescheidenheit
Witz_____________________________ Possenreißerei_ Artigkeit___________ Steifheit

Im Umgang mit (kriegerischen) Gefahren könne der Mensch tollkühn und feige sein. Diese beiden Extreme solle der Mensch jedoch nicht realisieren. Er solle vielmehr die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit realisieren, und mutig sein (vgl. III 10). – Was die taktile Lust, z. B. bei Essen und Trinken, betreffe, solle der Mensch der Lust weder allzu sehr, noch allzu wenig folgen, sondern mäßig oder maßvoll essen und trinken (vgl. III 13). – Der Bürger, der nicht zu den Reichen zähle, solle freigebig sein (vgl. IV 1 und IV 2). Die Freigebigkeit sei wiederum eine Mitte zwischen Verschwendung einerseits und Knauserigkeit andererseits (vgl. IV 3). – Der Reiche solle großzügig sein (vgl. IV 4). Auch die Großzügigkeit sei eine Mitte (zwischen Protzerei und Kleinlichkeit) (vgl. IV 6). – Den Menschen, der sich großer Dinge für wert halte und großer Dinge auch tatsächlich wert sei, nennt Aristoteles stolz. Der Stolz sei die Mitte zwischen Eitelkeit und Kleinmütigkeit (vgl. IV 7). – Weiterhin solle der Mensch ehrgeizig im mittleren Ausmaß sein, – eine Mitte, für die es keinen eigenen Namen gebe (vgl. IV 10). – Schließlich solle der Mensch sanftmütig im Zürnen (vgl. IV 11), freundschaftlich im Umgang mit anderen (vgl. IV 12) und wahrhaftig bei der Selbstdarstellung sein (vgl. IV 13). Auch dabei handele es sich jeweils um einen mittleren Habitus. Im Witze-Machen solle der Mensch artig sein. Die Artigkeit sei die Mitte zwischen Possenreißerei und Steifheit (vgl. IV 14).

Aristoteles betont also, dass der Mensch einen mittleren Habitus aufweisen solle. Und er verweist darauf, dass auch der Gesetzgeber einen mittleren Habitus fordere. Denn auch die Gesetze würden vom Soldaten im Krieg verlangen, mutig zu sein und nicht vor dem Feind zu fliehen, genauso wie sie vom Bürger verlangen würden, im Zorn sanftmütig zu sein, und den anderen weder zu beleidigen, noch zu schlagen (vgl. V 3).

Nach Aristoteles hat das Kind grundsätzlich einen mittleren Habitus. Das Kind sei deshalb natürlich tugendhaft (vgl. VI 13). Doch habe das Kind das Denken noch nicht erworben, und könne deshalb die Mitte auch einmal verfehlen. Das Kind könne auch nicht eigentlich tugendhaft sein, weil ihm das Denken fehle (vgl. ebd.).

Eigentlich tugendhaft könne nur derjenige sein, der über das Denken verfüge, oder anders gesprochen: eigentlich tugendhaft könne nur der Kluge sein (vgl. ebd.). Die Klugheit habe es mit dem Handeln zu tun und damit, wie der Mensch ein Ziel erreichen könne (vgl. ebd.). Die Klugheit setze dabei immer voraus, dass das Ziel, das erreicht werden soll (ethisch) gut sei. Wer ein (ethisch) schlechtes Ziel erreiche, handele geschickt oder verschlagen, aber nicht klug (vgl. ebd.).

Was leistet die Charaktertugend, d. h. der mittlere Habitus auf jedem Gebiet?:

* Wie oben bereits erwähnt, leiste die Tugend, dass die Handlungen im Einklang mit dem Gesetz ständen: Wer z. B. im Zorn den anderen nicht beleidige und nicht schlage, sondern sich sanftmütig verhalte, verhalte sich gesetzeskonform (vgl. V 3; s. o.).
* Sodann gebe die Tugend das Ziel vor, die Mitte zu realisieren und die Extreme zu meiden. Erst dieses ethisch gute Ziel ermögliche es, überhaupt klug zu handeln (vgl. VI 13; s. o.).
* Wer tugendhaft handele und auf jedem Feld die Mitte realisiere, realisiere eine Form von Glück in „zweiter Linie“ (X 8). Denn das tugendhafte Handeln sei mit Lust verknüpft: Wer freigebig gebe, tue dies mit Lust. Denn niemand nenne den freigebig, der ungern gebe (vgl. I 9).
* Wer den tugendhaften mittleren Habitus auf jedem Feld habe, könne selbstliebend im positiven Sinn genannt werden (vgl. IX 8).
* Nur der Tugendhafte könne eine Tugendfreundschaft schließen. Eine Tugendfreundschaft entstehe immer zwischen zwei Tugendhaften. Die Tugendfreundschaft sei eine Freundschaft im besten Sinne: sie sei angenehm, nützlich und sie biete (im Unterschied zu allen anderen Freundschaften, die Aristoteles kennt) den Freunden Schutz vor Verleumdung (vgl. VIII 4 und VIII 5).
* Die Tugend, v. a. die Mäßigkeit, bewahre das Handlungsprinzip, d. h. das Prinzip, nach der Mitte zu streben und die charakterlichen Extreme zu vermeiden (vgl. VII 9).
* Nur der Mensch, der in jeder Hinsicht tugendhaft im Umgang mit seinen Mitmenschen sei, sei gerecht im weiteren Sinn (vgl. V 3). Ich deute dies so, dass der Mensch, der mutig (gegenüber seinem Kameraden im Krieg), freigebig, großzügig, sanftmütig, wahrhaftig, freundschaftlich und artig ist, gerecht ist.

Wie entsteht die Charaktertugend?:
Nach Aristoteles entsteht die Charaktertugend durch Gewöhnung (vgl. II 1). Nur derjenige, der gewöhnlich freigebig Geld gebe, erwerbe den Habitus der Freigebigkeit. Und nur der, der den Gefahren schon oft standgehalten habe, werde mutig (vgl. ebd.).

Als Letztes soll noch die Weisheit thematisiert werden. Die Weisheit sei wie die Klugheit eine Tugend des Denkens (vgl. I 13). Während die Klugheit es mit dem Handeln zu tun habe (s. o.), habe die Weisheit es mit dem Betrachten zu tun (vgl. X 7). Und während es die Klugheit mit den Dingen zu tun habe, die sich so oder anders verhalten könnten (vgl. VI 6), habe die Weisheit es mit den Dingen zu tun, die sich immer gleich verhielten (vgl. VI 7). Ich deute dies so, dass der Weise also derjenige ist, der die Dinge, die sich immer gleich verhalten, betrachtet.

Zu den Dingen, die sich immer gleich verhielten, zählt Aristoteles geometrische Formen wie die Gerade (vgl. ebd.). So könnten Mathematiker, auch schon in jungen Jahren, weise sein (vgl. VI 9).
Die Weisheit entstehe (wie die Klugheit) durch Belehrung (vgl. II 1). Das Betrachten des Weisen mache den Menschen vollkommen glücklich (vgl. X 7). Denn keine andere Handlung werde um ihrer selbst willen ausgeführt wie das Betrachten; denn aus dem Betrachten rühre kein Gewinn wie etwa aus zielgerichtetem Handeln ein Nutzen entspringe (vgl. ebd.). Außerdem ähnele der Mensch, der betrachte, am ehesten den glücklich lebenden Göttern, die ebenfalls betrachten würden (vgl. X 9).

Schluss:
Zum Schluss sollen die drei Fragen aus der Einleitung noch einmal kurz aufgegriffen werden. Die Frage, was die Tugend sei, beantwortet Aristoteles im Wesentlichen damit, dass er sagt, dass die Tugend eine mittlere Disposition, d. h. ein mittlerer Habitus sei. Der Mut liege zum Beispiel in der Mitte zwischen der Tollkühnheit als einem Extrem und der Feigheit als dem anderen Extrem.
Die Frage, wie die Tugend entstehe, beantwortet Aristoteles differenziert: Die charakterlichen Tugenden wie der Mut und die Freigebigkeit entständen durch Gewöhnung; die Tugenden des Denkens wie die Klugheit und die Weisheit entständen hingegen durch Belehrung.
Die dritte Frage danach, wozu die Tugend uns befähigt bzw. warum wir tugendhaft sein sollen, beantwortet Aristoteles sehr kurz gesprochen wie folgt: Das tugendhafte Handeln sei immer mit Lust verbunden. Z. B. gebe der Freigebige gerne. Außerdem werde das weise Betrachten nur seinetwegen getan, denn ein Gewinn falle beim Betrachten nicht an. Schließlich gewähre nur der Tugendhafte in der Tugendfreundschaft dem anderen Freund neben Lust und Nutzen einen Schutz vor Verleumdung.

Felix H.

Lektüre:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek 52015.

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