Verfassungslehre in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles

Einleitung:
In der Literatur über die Nikomachische Ethik spielt die Frage nach den Staatsverfassungen kaum eine Rolle. Vielleicht liegt dies daran, dass man ein so politisches Thema nicht in einem ethischen Werk vermutet.
Vermuten würde man wahrscheinlich auch nicht so leicht, dass Aristoteles seine Auffassungen über
die Staatsverfassungen in Buch VIII vornimmt, das – wie Buch IX – von der Freundschaft handelt.
In meinem kleinen Aufsatz über die Verfassungslehre in der Nikomachischen Ethik möchte ich trotzdem versuchen zu erklären, warum Aristoteles die verschiedenen Verfassungen in seinem Buch über die Freundschaft behandelt.
Vorweg möchte ich noch darauf hinweisen, dass Aristoteles in der Beschreibung und Bewertung der unterschiedlichen Verfassungen in der Nikomachischen Ethik rein theoretisch bleibt: er bringt keine Verweise auf konkrete historische Gegebenheiten.

Ich wünsche dem Leser eine interessante und verständliche Lektüre!
Felix H.

Hauptteil:
Aristoteles thematisiert die Verfassungen in den Kapiteln 12 und 13 des XIII. Buchs, und spricht dabei mehrere Aspekte an. Diese einzelnen Aspekte sollen im Folgenden thematisiert werden. Dazu zählt die Frage, welche Verfassungen Aristoteles kennt, welche Verfassungswechsel wahrscheinlich und welche unwahrscheinlich sind, ob auch die familiären Beziehungen sich als eine Art Verfassung denken lassen und die Frage, welchen Stellenwert die Freundschaft in den verschiedenen Verfassungen hat.

Verfassungsformen und ihre Bewertung
Aristoteles unterscheidet insgesamt sechs verschiedene Verfassungen: Die Monarchie/das Königtum, die Aristokratie, die Timokratie sowie die Tyrannei, die Oligarchie und die Demokratie. In der Monarchie sehe der König auf den Nutzen der Beherrschten; in der Tyrannis verfolge hingegen der Tyrann seinen eigenen Nutzen. In der Aristokratie würden die Besten herrschen; in der Oligarchie hingegen nicht die Besten, sondern die Reichen. In der Timokratie würden viele Bürger herrschen. Auch in der Demokratie würden viele Bürger herrschen, jedoch sei hier „der Herrscher schwach“ (VIII 12).
Von allen sechs Verfassungen befürwortet Aristoteles am meisten die Monarchie, an zweiter Stelle die Aristokratie und an dritter Stelle die Timokratie. Die Demokratie scheint Aristoteles auch zu befürworten, da sie nur wenig von der Timokratie abweiche (vgl. VIII 12). Aristoteles lehnt die Oligarchie ab. Am meisten lehnt er jedoch die Tyrannei ab (vgl. ebd.).

Wechsel der Verfassungen
Im Laufe der Geschichte könnten einzelne Verfassungen einander ablösen. Nach Aristoteles scheinen sich immer diejenigen Verfassungen, die gleich viele bzw. gleich wenige Herrscher haben, am wahrscheinlichsten abzulösen. So könne eine Monarchie in eine Tyrannis übergehen, wenn ein schlechter König zum Tyrannen werde. Auch könne aus einer Aristokratie eine Oligarchie werden, wenn der Reichtum „am höchsten“ (VIII 12) geschätzt werde. Und schließlich könne eine Timokratie eine Demokratie werden. Denn sowohl in der Timokratie, als auch in der Demokratie würden viele Bürger herrschen (vgl. ebd.).
In diesen drei Beispielfällen scheint sich die Güte der Verfassung zu verschlechtern: Aus der Monarchie wird eine Tyrannei, aus der Aristokratie wird eine Oligarchie und aus der Timokratie eine Demokratie. Ein Beispiel für eine Verbesserung der Verfassung bringt Aristoteles nicht. Jedoch scheint auch eine Verbesserung möglich zu sein. Denn die von Aristoteles angeführten Beispiele sollen augenscheinlich nur verdeutlichen, dass der Übergang dort „am leichtesten“ (VIII 12) geschehe, wo „die Veränderung am geringsten“ (ebd.) sei. So scheint also auch z. B. der Übergang von einer Tyrannei in eine Monarchie für Aristoteles möglich zu sein.

Verfassungen in der Familie
Aristoteles behauptet, dass man die sechs verschiedenen Verfassungen auch in der Familie wiederfinden könnte. So sei die Herrschaft des Vaters über die Kinder eine königliche, wenn der Vater sich um seine Kinder kümmere (vgl. VIII 12). Umgekehrt sei die Herrschaft des Vaters tyrannisch, wenn der Vater seine Kinder „wie Sklaven“ (ebd.) behandele.
Das Verhältnis von Mann und Frau solle aristokratisch sein: Der Mann solle also dort herrschen, wo er besser als die Frau sei, die Frau wiederum solle dort herrschen, wo sie besser als der Mann sei (vgl. VIII 12; siehe auch VIII 13). Umgekehrt könne aber auch der Fall eintreten, dass das Verhältnis von Frau und Mann oligarchisch sei; etwa, weil die Frau sehr reich sei und deshalb herrsche (vgl. VIII 12).
Das Verhältnis der Brüder untereinander gleiche einer Timokratie, wenn die Brüder etwa gleichaltrig seien (vgl. VIII 12 und VIII 13). Demokratisch seien die Verhältnisse in der Familie dann, wenn es „keinen Herrn gibt“ (VIIII 12) oder der Herr schwach sei; jeder handele dann „nach Belieben“ (ebd.).

Die Rolle der Freundschaft in den verschiedenen Verfassungen
Aristoteles erläutert seine Ansichten über die unterschiedlichen Verfassungen in Buch VIII, das von der Freundschaft handelt. In Kapitel 13 des VIII. Buchs fragt er danach, welchen Rang die Freundschaft in den einzelnen Verfassungen hat. Mein Eindruck ist, dass die Freundschaft überall dort eine größere Rolle spielt, wo die Verfassung gut ist. So scheint die Freundschaft einen großen Stellenwert in der Monarchie zu haben, wenn der König seinen Untertanen Gutes tue. Auch scheint die Freundschaft einen großen Raum in der königlichen Beziehung des Vaters zu seinen Söhnen zu haben (vgl. VIII 13). (Die Frage, ob es sich um das Königtum im Staat oder ob es sich um das Königtum in der Familie handelt, scheint für Aristoteles also zweitrangig zu sein: In der Familie und im Staat scheint das Königtum am meisten Freundschaft zu beinhalten.)
Auch die aristokratische Beziehung zwischen Mann und Frau und die timokratische Beziehung zwischen Brüdern nennt Aristoteles Freundschaften (vgl. VIII 13). Ebenso komme Freundschaft in der Demokratie vor: „Denn Bürgern, die gleich sind, ist vieles gemeinsam.“ (VIII 13)
In der Tyrannis gäbe es aber kaum oder gar keine Freundschaft. Denn wo „nämlich dem Herrschenden und dem Beherrschten nichts gemeinsam ist“ (ebd.), gäbe es auch keine Freundschaft.

Schluss:
Meine Vermutung ist, dass Aristoteles’ zentrale Aussage in den Kapiteln 12 und 13 des VIII. Buchs darin liegt, dass Freundschaft eher in den guten Verfassungen als in den schlechten Verfassungen vorherrscht. Zu den drei guten Verfassungen zählt Aristoteles die Monarchie/das Königtum, die Aristokratie und die Timokratie. Die Demokratie sei schlechter als die Timokratie, weiche aber nur wenig von der Timokratie ab. Zu den schlechten Verfassungen gehören nach Aristoteles die Tyrannei und die Oligarchie.
Alle Verfassungsformen fänden sich auch in der Familie wieder. Es scheint nun ganz gleich zu sein, ob die Verfassung im Staat oder in der Familie besteht: eine gute Verfassung beinhaltet immer mehr Freundschaft als eine schlechte. So sei das Königtum (in Staat und Familie) von sehr viel Freundschaft geprägt, während die Tyrannei von sehr wenig oder gar keiner Freundschaft gekennzeichnet sei. Auch die Demokratie beinhalte relativ viel Freundschaft, jedenfalls mehr als die Tyrannei.

Vielleicht kann man sagen, dass sich die verschiedenen Verfassungen über das Ausmaß an Freundschaft definieren: Das Königtum beinhaltet am meisten von ihr, die Demokratie weniger als das Königtum; am wenigsten weist die Tyrannei Freundschaft auf. Und vielleicht ist das Königtum deshalb die beste Verfassung, weil das Königtum (in Staat und Familie) am meisten Freundschaft aufweist, die Aristokratie die zweitbeste Verfassung, weil sie am zweit meisten Freundschaft aufweist und die Timokratie die drittbeste Verfassung, weil sie am dritt meisten Freundschaft aufweist, etc.

Felix H.

Literatur:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek 52015.

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