Das Glück bei Aristoteles

Einleitung:
Das Glück des Menschen ist ein zentrales Thema in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Aristoteles behandelt das Glück vor allem im ersten und im zehnten (letzten) Buch der Nikomachischen Ethik.
In meinem Artikel möchte ich folgende Fragen thematisieren: Welchen Stellenwert hat das Glück bei Aristoteles? Wie wird der Mensch nach Aristoteles glücklich? Und schließlich: Wer kann nach Aristoteles glücklich werden?

Ich wünsche dem Leser eine interessante und verständliche Lektüre!

Felix H.

Hauptteil:
Zunächst soll der Stellenwert bestimmt werden, den Aristoteles dem Glück beimisst. Aristoteles betont im ersten und im letzten Buch der Nikomachischen Ethik, dass das Glück ein Ziel sei, das um seiner selbst willen angestrebt werde. D. h. das Glück diene keinem weiteren Ziel oder Zweck. Im Gegensatz zum Glück ständen z. B. die Lust und die Ehre. Denn Lust und Ehre würden dem Zweck dienen, glücklich zu werden (vgl. I 5). Der Mensch wähle „alles um anderer Dinge willen, nur das Glück nicht“ konstatiert Aristoteles in Buch 10, Kapitel 6.

Aristoteles thematisiert explizit die Frage, ob das Glück „zu den lobenswerten Dingen gehört oder eher zu den hochgeschätzten“ (I 12), und kommt zu dem Ergebnis, dass keiner das Glück lobe, „wie man die Gerechtigkeit lobt“ (vgl. ebd.). Das Glück scheint schon deshalb für Aristoteles eher zu den hochgeschätzten Dingen zu gehören. Das Glück gehöre aber auch deshalb zu den hochgeschätzten Dingen, da es das Prinzip des Handelns sei: „Denn ihm zuliebe tut jeder alles Übrige“ (vgl. ebd.).

Als Prinzip des Handelns sei das Glück etwas Göttliches (vgl. I 12). Auch in Buch I, Kapitel 10 stellt Aristoteles einen Zusammenhang zwischen Gott und Glück her: Denn das Glück, „scheint, selbst wenn es nicht von Gott gesandt ist, sondern durch Tugend und durch eine Art von Lehre oder Übung entsteht, zu den göttlichsten Dingen zu gehören. Denn das, was der Preis und das Ziel der Tugend ist, scheint das Beste zu sein und etwas Göttliches und Seliges.“ Auch werde das Glück „selig“ (I 12) genannt. Denn das Glück sei „etwas Göttlicheres und Besseres“ (ebd.). (Über das glückselige Leben der Götter und Göttinnen berichte ich in meinen Artikel über „Die Götter und Göttinnen in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles“.)

Als Nächstes soll darüber gesprochen werden, wie der Mensch nach Aristoteles glücklich wird. Dabei soll unterschieden werden, welche Auffassung die Menge hat und welche Meinung Aristoteles selbst vertritt.
Das griechische Volk sähe im Glück „etwas Sichtbares und Offenkundiges, wie Lust oder Reichtum oder Ehre“ (I 2). Dass die Menge unter Glück die Lust verstehe, betont Aristoteles auch in Buch I, Kapitel 3 und schlussfolgert, dass die Menge deshalb „das Leben des Genusses“ (ebd.) liebe (vgl. auch VII12 und VII14).
Doch scheint es im griechischen Volk zur Zeit des Aristoteles auch andere Ansichten zu geben, wie der Mensch glücklich wird. Denn für manche liege das Glück in der „Tugend“ (I 9; vgl. auch I 2), für andere in der „Klugheit“ (I 9), für wiederum andere in „einer Art Weisheit“ (ebd.), und einige würden schließlich die Rolle des äußeren Gedeihens (vgl. ebd.) betonen, um glücklich zu werden.
Augenscheinlich unterschiedliche Auffassungen scheint es im Volk über die Frage zu geben, ob glückselige Menschen der Freunde bedürfen oder nicht. Manche seien der Meinung, dass Glückselige nicht der Freunde bedürfen würden, da Glückliche „autark“ (IX 9) seien und deshalb „nichts Zusätzliches“ (ebd.) bräuchten. Andere scheinen dieser Auffassung zu widersprechen.

Welche Meinung teilt Aristoteles selbst zu der Frage, wie der Mensch glücklich wird? Mir scheint an dieser Stelle eine Unterscheidung des Glücks wichtig zu sein, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik macht. Aristoteles unterscheidet nämlich zwischen einem vollkommenen Glück (vgl. X 7 und X 8) und einem Glück in „zweiter Linie“ (X 8). Das vollkommene Glück liege im Betrachten (vgl. X 7 und X 8); das Glück in zweiter Linie erreiche der Mensch dadurch, dass er tugendhaft lebe (vgl. X 8). Tugendhaft zu leben bedeutet für Aristoteles, z. B. tapfer und gerecht zu sein (vgl. ebd.).

Man kann sich an diesem Punkt die Frage stellen, was das vollkommene Glück des Betrachtens so vollkommen macht. Die Tätigkeit des Betrachtens charakterisiert Aristoteles mit einigen Superlativen. So sei das Betrachten die „höchste“ (X 7) Tätigkeit des Menschen, zugleich sei das Betrachten auch „die kontinuierlichste Tätigkeit“ (ebd.). Denn wir könnten „eher kontinuierlich betrachten […] als irgendeine andere Handlung verrichten“ (ebd.). Auch sei das weise Betrachten die „lustvollste“ (ebd.) Tätigkeit. Schließlich sei das Betrachten die Tätigkeit, bei der der (weise) Mensch am meisten autark sei. „Denn die lebensnotwendigen Dinge braucht der Weise ebenso wie der Gerechte und die Träger der übrigen Tugenden“ (ebd.). Der Gerechte brauche aber außerdem „noch Menschen, denen gegenüber und mit denen er gerecht handeln kann, und dasselbe gilt auch für den Mäßigen, den Tapferen und alle Übrigen“ (ebd.). „Der Weise hingegen kann auch dann betrachten, wenn er für sich ist“ (ebd.). Zugleich sei das Betrachten die einzige Tätigkeit, die „um ihrer selbst willen geliebt wird. Denn nichts entsteht aus ihr außer dem Betrachten, während wir aus den Tätigkeiten des Handelns außer der Handlung mehr oder weniger Gewinn haben“ (ebd.).
„Weiter nimmt man an, dass das Glück in der Muße besteht“ (ebd.). Und Betrachten und Muße scheinen für Aristoteles (sehr) gut miteinander vereinbar zu sein.
Auch betont Aristoteles, dass sich die betrachtende Tätigkeit „durch ihre Ernsthaftigkeit auszeichnet“ (ebd.). Ferner sei das, was einem Lebewesen von Natur eigentümlich ist, „für es das Beste und Lustvollste“ (ebd.). Da das eigentümliche Merkmal des Menschen die Vernunft/das Denken sei, sei das betrachtende Leben „auch das glücklichste“ (ebd).
Für Aristoteles ist das Betrachten zugleich diejenige Tätigkeit, die der Tätigkeit der Götter und Göttinnen „am nächsten verwandt ist“ (X 8). Denn die Tätigkeit der Götter und Göttinnen liege im Betrachten; zugleich sei dieses betrachtende Leben der Götter im höchsten Maße glücklich (vgl. ebd.). Deshalb bringe das Betrachten dem Menschen „das größte Glück“ (X 8).
Aristoteles betont ferner, dass die Betrachtung „als solche schätzenswert“ sei (ebd.).
Schließlich, so vermutet Aristoteles, gefalle der Mensch, der weise betrachte, den Göttern am meisten. Der Weise werde deshalb „von den Göttern am meisten geliebt“ (X 9), und bekomme für die Pflege seiner Vernunft von den Göttern „Gutes“ (ebd.) zurück. Angesichts der vielen Superlative, die Aristoteles dem Betrachten zumisst, überrascht es nicht, dass Aristoteles zu der Feststellung kommt, dass der Weise „vermutlich […] der glücklichste“ (ebd.) sei.

Es stellt sich die Frage, was Weisheit bei Aristoteles bedeutet. Die Weisheit ist neben der Klugheit bei Aristoteles eine Verstandestugend oder eine Tugend des Denkens (vgl. VI 2). Der Weise könne die Dinge, die sich immer gleich verhalten (wie z. B. das Gerade), besonders gut erklären (vgl. VI 7).

Es stellt sich ferner die Frage, was die Klugheit ist, und ob auch die Klugheit zum Glück etwas beiträgt. Die Klugheit befasse sich mit den Dingen, die sich auch anders verhalten könnten (vgl. VI 7) und wähle das aus, was zum Ziel führe (vgl. VI 13). Aristoteles scheint die Frage, ob auch die Klugheit zum Glück des Menschen beiträgt, zu bejahen. Denn über Weisheit und Klugheit sagt er in Buch VI, Kapitel 13: „Denn da sie ein Bestandteil der ganzen Tugend ist, macht sie uns dadurch, dass wir sie besitzen und ausüben, glücklich.“
Aristoteles sagt über die Klugheit, dass sie die Mittel auswähle, die zum Ziel führen würden (vgl. VI 13; s. o.). Die „Tugend des Charakters [hingegen] macht den Zielpunkt richtig“ (VI 13). Mit der charakterlichen Tugend ist Aristoteles’ ‚Ethik der Mitte‘ gemeint. Diese Ethik der Mitte fordert zum Beispiel, dass der Mensch im Umgang mit Gefahren weder tollkühn, noch feige sein solle; vielmehr solle der Mensch einen mittleren Habitus aufweisen und mutig sein (vgl. III 10).

Es stellt sich wiederum die Frage, inwieweit der ethisch tugendhafte Mensch, der einen mittleren Habitus auf jedem Feld aufweist, glücklich wird.
Wie oben schon kurz erwähnt, unterscheidet Aristoteles zwischen einem vollkommenen Glück und einem Glück in zweiter Linie; dieses Glück in zweiter Linie erreiche der Mensch dadurch, dass er tugendhaft lebe (vgl. X 8). Mit dieser Feststellung im letzten Buch der Nikomachischen Ethik knüpft Aristoteles an Feststellungen im ersten Buch der Nikomachischen Ethik an. Relativ zu Beginn seines Werks betont Aristoteles nämlich, dass „die Meinung, dass der Glückliche gut lebt und gut handelt“ (I 8) in „Einklang mit unserer Definition“ (ebd.) stehe. Aristoteles stellt auch eine ganz enge Verbindung zwischen ethischer Tugend (im Sinne eines mittleren Habitus) und Glück her. Denn nur derjenige, der den mittleren Habitus der Großzügigkeit/Freigebigkeit habe und sich darüber freue, freigebig gehandelt zu haben, sei tatsächlich tugendhaft. Denn „niemand würde denjenigen gerecht nennen, der sich nicht am gerechten Handeln freut, oder den großzügig, der sich nicht an großzügigen Handlungen freut, und ebenso in den anderen Fällen“ (I 9).

Das Glück oder die Freude an der vollzogenen guten Handlung ist für Aristoteles also ein Bestandteil der ethischen Tugend. Die ethische Tugend beziehe sich auf einen mittleren Habitus, zum Beispiel mutig zu sein (tollkühn – mutig – feige) (vgl. II 7 und III 10) oder freigebig zu sein (verschwenderisch – freigebig – knauserig) (vgl. II 7, IV 1 und IV 2).
Im Zusammenhang mit dem Mut bemüht Aristoteles auch das Bild des tapferen Soldaten, und betont: „Und je mehr er die ganze Tugend besitzt und je glücklicher er ist, umso mehr wird ihn die Aussicht auf den Tod schmerzen“ (III 12). Dieses Zitat macht aus meiner Sicht vor allem deutlich, dass bei allem fast überschwänglichen Lob der Betrachtung, um ein vollkommenes Glück zu bekommen, auch die charakterlichen (ethischen) Tugenden wie Mut und Freigebigkeit eine Rolle spielen, um glücklich zu werden.
Man kann – und ich glaube, dass dies im Sinne Aristoteles’ ist – dieses letzte Zitat auch weiter denken: Wenn man unter der Weisheit (wie unter der Klugheit) eine (dianoetische) Verstandes-Tugend versteht und wenn man unter Mut und Freigebigkeit (ethische) Charakter-Tugenden versteht, dann bedarf es der ganzen Tugend, also der Weisheit als Verstandestugend und des Muts zum Beispiel als Charaktertugend, um das ganze Glück zu erlangen.

Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch darauf hingewiesen, dass Aristoteles in seinen Ausführungen über das Glück besonders betont, dass das Glück eine „Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit“ (I 10; vgl. auch I 13) sei bzw. dass das glückliche Leben „in der Betätigung der Gutheit“ (X 6; vgl. auch IX 9) bestehe. Mir verdeutlichen diese Zitate, dass Aristoteles der Meinung ist, dass das Glück im Tun und in einem aktiven Leben liegt – und nicht etwa im Schlaf.

Neben der ganzen Tugend brauche es auch der äußeren Güter, um glücklich zu werden (vgl. I 9). Zu den äußeren Gütern zählt Aristoteles die Freundschaft, einen hinreichenden Besitz und politische Macht. Diese äußeren Güter seien deshalb wichtig, weil der Mensch oft nur mit ihnen tugendhaft handeln könne (vgl. ebd.).

Da Aristoteles zwischen Tugendfreundschaft, Lustfreundschaft und Nutzenfreundschaft (Näheres dazu in meinem Artikel „Die Freundschaft in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles“) unterscheidet, stellt sich die Frage, welche Freunde der Glückliche braucht. Aristoteles kommt in Buch IX, Kapitel 9 zu dem Ergebnis, dass der Glückliche solche Freunde brauche, „die gute Menschen sind.“ Denn der (glückselige) Tugendhafte wünsche tugendhafte „Handlungen zu betrachten […], so beschaffen aber die Handlungen des Guten sind, der ein Freund ist“ (IX 9).
Freunde, die ausschließlich angenehm sind, brauche der Glückliche hingegen „nur wenig“ (ebd.); Freunde, die nur nützlich sind, brauche der Glückliche nicht (vgl. ebd.; vgl. auch VIII 7).
Der Glückselige brauche einen Freund, um „Gutes tun“ (IX 11) zu können (vgl. auch IX 9). Umgekehrt brauche der Unglückliche die „Hilfe“ (IX 11) der Freunde; der Unglückliche empfinde oft „Erleichterung“ (ebd.), wenn er sich seinen Freunden gegenüber ausdrücken könne.

Was Besitz und politische Macht angeht, brauche der Mensch weder einen großen Besitz, noch große Macht, um glücklich zu sein (vgl. X 9). Denn man könne auch „mit bescheidenen Mitteln“ (ebd.) und „ohne über Land und Meer zu herrschen“ (ebd.) tugendhaft handeln (und so glücklich werden). Aristoteles zitiert in diesem Zusammenhang Solon und Anaxagoras, die beide den Glücklichen als Nicht-Reichen charakterisiert hätten, Anaxagoras auch als Nicht-Mächtigen (vgl. ebd.).
Aristoteles betont auch, dass gerade die Reichen und Mächtigen tugendhaft sein sollten (vgl. IV 8). Denn der Untugendhafte, der reich oder mächtig sei, werde „arrogant und frech“ (ebd.). So seien Reichtum und Macht als Glücksgüter „ohne Tugend […] nicht leicht […] zu tragen“ (ebd.).
Neben den äußeren Gütern brauche der Glückliche auch eine gute körperliche Gesundheit (vgl. VII 14 und X 9) und ein ansehnliches Äußeres (vgl. I 9).

Zum Schluss meines Aufsatzes über das Glück in der Nikomachischen Ethik soll noch die Frage beantwortet werden, wer glücklich werden kann und wer nicht. Das Tier könne nicht glücklich sein, da es nicht fähig sei, „sich an einer solchen Tätigkeit zu beteiligen“ (I 10). Leider ist bei diesem Zitat unklar, was Aristoteles genau unter einer „solchen Tätigkeit“ meint. Meint er das überlegt-kluge ethische richtige Handeln oder das weise Betrachten? Oder beides?
In Buch X, Kapitel 8 betont Aristoteles, dass Tiere nicht glücklich sein könnten, weil sie nicht betrachten könnten.
Auch die Kinder könnten nicht glücklich sein, weil sie „wegen ihres Alters noch nicht zu solchen Handlungen fähig“ (I 10) seien. Auch hier bleibt wieder offen, ob Aristoteles unter „solchen Handlungen“ das überlegt-kluge tugendhafte Handeln oder das weise Betrachten versteht.

Am glücklichsten scheinen die Götter zu sein. Denn die Götter würden „selig und glücklich“ (I 12) genannt werden. Außerdem sei „für die Götter […] das Leben insgesamt glückselig“(X 8). An das Glück der Götter scheint das Glück der „göttlichsten unter den Menschen“ am ehesten zu reichen. Denn auch diese würden „selig und glücklich“ (I 12) genannt werden.

Dabei weise das Glück des Glücklichen eine große zeitliche Stabilität auf. So sei der Glückliche nicht „leicht aus seinem Glück zu vertreiben“ (I 11). Nur große und zahlreiche Unglücksfälle könnten das Glück des Glücklichen zerstören. Sei das Glück durch solche schwere Unglücksfälle einmal zerstört worden, brauche es lange bis der Mensch sein früheres Glück wieder erreichen könne. Es könne aber auch sein, dass der unglücklich gewordene Mensch sein früheres Glück nicht mehr erreiche (vgl. ebd.).

Auch Tote könnten glücklich sein, wenn sie ein glückliches Leben gehabt hätten (vgl. I 11). Das Glück und Unglück der Nachkommen beeinflusse zudem das Glück der Toten. Zwar könnten durch das Glück oder Unglück der Nachkommen die glücklichen Toten nicht unglücklich werden und die unglücklichen Toten nicht glücklich, doch hätten das Glück und Unglück der Nachkommen eine „gewisse Auswirkung auf die Toten“ (I 11).

Schluss:
Meine Interpretation des Glücks in der Nikomachischen Ethik möchte ich wie folgt zusammenfassen: Je aktiver und je tugendhafter die Seele ist, umso glücklicher ist sie.

Felix H.

Lektüre:
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, Reinbek 52015.

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